Aussetzung der Vollziehung wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Verzinsung nach der Abgabenordnung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2012
Der Bundesfinanzhof hat in einem Verfahren zum vorläufigen Rechtsschutz Zweifel an der Verfassungskonformität des Zinssatzes für Verzinsungszeiträume ab dem 1. April 2015 geäußert und deshalb die Vollziehung eines Bescheides über Nachforderungszinsen ausgesetzt.
Nach bereits länger bekannter Auffassung des Bundesfinanzhofs begegnet die Zinshöhe durch ihre realitätsferne Bemessung im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz und das Übermaßverbot für Verzinsungszeiträume ab dem 1. April 2015 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln. Der gesetzlich festgelegte Zinssatz (6% p.a.) überschreite angesichts einer zu dieser Zeit bereits eingetretenen strukturellen und nachhaltigen Verfestigung des niedrigen Marktzinsniveaus den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität in erheblichem Maße.
Dem könne nicht entgegen gehalten werden, dass bei Kreditkartenkrediten für private Haushalte Zinssätze von rund 14% oder bei Girokontenüberziehungen Zinssätze von rund 9% anfallen würden. Hierbei handele es sich um Sonderfaktoren, die nicht als Referenzwerte für ein realitätsgerechtes Leitbild geeignet seien und damit einem typisierten Zinssatz nicht zu Grunde gelegt werden dürften.
In seiner neueren Entscheidung hat sich der BFH diesen Erwägungen angeschlossen und entschieden, dass sich die Aussetzung der Vollziehung auch auf Zeiträume ab November 2012 erstrecken muss, da die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes für Verzinsungszeiträume nach 2009 bereits Gegenstand zweier Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sei. Daher sei unbeachtlich, dass ein anderer Senat des BFH noch am 9. November 2017 die Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes für in das Kalenderjahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume bestätigt hatte.
Reaktion der Finanzverwaltung auf die Rechtsprechung
Die BFH-Beschlüsse sind für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2012 (nur) auf Antrag des Zinsschuldners in allen Fällen anzuwenden, in denen gegen eine vollziehbare Zinsfestsetzung, in der der Zinssatz von 6% zugrunde gelegt wird, Einspruch eingelegt wurde. Unerheblich ist dabei, zu welcher Steuerart und für welchen Besteuerungszeitraum die Zinsen festgesetzt wurden.
Die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes soll grundsätzlich ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
Die angeordnete Gewährung der Aussetzung der Vollziehung für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2012 ist nicht dahingehend zu verstehen, dass die obersten Finanzbehörden des Bundes und der Länder die Verfassungsmäßigkeit bezweifeln. Angesichts der bisherigen Nichtannahmebeschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Verzinsungsregelung ist ungewiss, ob das Bundesverfassungsgerichtden Zinssatz von 0,5 Prozent pro Monat bei einer neuerlichen Prüfung unter Berücksichtigung der weiteren Marktzinsentwicklung in den letzten Jahren nun als verfassungswidrig einstufen wird.
Für Verzinsungszeiträume vor dem 1.Januar 2012
Hier ist Aussetzung der Vollziehung nur zu gewähren, wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte und im Einzelfall ein besonderes berechtigtes Interesse des Antragstellers zu bejahen ist.
Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Zinsbescheids eintretenden Eingriffs beim Zinsschuldner und andererseits auf die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an.
Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehenden Geltungsanspruch der formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Zinsvorschriften ist für Verzinsungszeiträume vor dem 1. Januar 2012 der Vorrang einzuräumen. Denn die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung würde im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung dieser Zinsvorschriften führen, die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen sind als eher gering einzustufen und der Eingriff hat keine dauerhaften nachteiligen Wirkungen.
Quelle: Koordinierter Erlass der oberste Finanzbehörden vom 14.12.2018; BMF-Schreiben vom 27.11.2019; BFH v. 25.04.2018 (Az. IX B 21/18) und v. 03.09.2018 (Az. VIII B 15/18)